Täglich begegnen wir Anderen und Anderem. Karl Marx bezeichnete den Menschen einmal als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (6. Feuerbach-These), also als Ergebnis fortwährender praktisch-sinnlicher Auseinandersetzung mit allem, was auf uns Einfluss ausübt. Nicht alle Einflüsse sind gleich bedeutsam, wirksam und nachhaltig. Von manchen Einflüssen möchten wir uns befreien, manche machen uns aus, manche möchten wir nicht missen und vermissen sie sehr, wenn sie enden.
Am einflussreichsten ist kultürlich der eigene Mikrokosmos – Eltern, Verwandtschaft, Freundschaft, Schule, vor allem aber die eigene Familie. Vieles von dem, was KataCom veröffentlicht, wäre nicht entstanden, hätte meine Frau nicht Raumzeit geschaffen für all den intellektuellen Autismus. Ihr und meinem Sohn gilt ein eigenes Denkmal.
Und wer schoss ansonsten Hirnschmalz in die Denkbahn?
In besonderem Maße Lars Clausen. Bei ihm studierte ich Soziologie, an der Christian-Albrechts-
Universität Kiel. In Wahrheit war es weit mehr als Soziologie; es war eine Art zu denken. Clausen lehrte, nichts so zu nehmen, wie es sich im ersten Moment darstellte. Hintergründe und Abgründe, Begründungen und Grundsätzliches verstellen den Blick darauf, dass alles auch ganz anders sein könnte, insbesondere dann, wenn auf Grundsätzlichem herumgeritten wird. Weltanschauung nicht als empirische Anschauung, sondern als Ideologie, das sei der wahre Sprengstoff des Sozialen. Lars Clausen vermittelte das Sezierbesteck, mit dem sich beides, Soziales wie sein Sprengendes, aufdecken und damit, wenn man es gut meint, auch heilen und entschärfen lässt. Und noch etwas lehrte Clausen: dass nicht nur Wissenschaft Zugang zur Welt ermöglicht, sondern auch Kunst, vor allem Literatur. Die Belletristik war sein Zugang zur Welt, vielleicht sogar sein wahres zuhause. So manche Befreundung zeugt davon. Zugleich hat Clausens Belesenheit viele verschreckt, eingeschüchtert, wie Zwerge aussehen lassen. Manche nahmen ihm das mehr als übel, auch und besonders die Fakultät, aber auch viele Kollegen haben es ihm heimgezahlt. Dabei hätte man so viel lernen, so viel profitieren können. Clausen öffnete Tore, auf Vergessene, Verschollene, Unentdeckte, Übergangene. Gleiches galt auch für die Wissenschaften. Zu Gastprofessuren holte Clausen Norbert Elias, Alfred Sohn-Rethel, Harry Hoefnagels, Gabor Kiss und Horst Baier nach Kiel. Sie alle, auf je eigene Weise, weiteten die Denkbahn.
Ein anderer Ziehvater war Joseph I. Meiers, Adlerianer und Jahrzehnte praktizierender Psychologe in New York City. Er war früh genug über England in die USA emigriert und jung genug, um ein neues Leben zu beginnen. Das Leiden der Welt resultiere aus Unterlegenheitskomplexen und deren übertriebenen Kompensationen. Immer und überall müsse man den Beeinträchtigungen und Zerstörungen des Lebendigen entgegenwirken. Deshalb war er mit Leo Szilard verbunden, um gegen die Atombombe einzutreten, danach gegen „atoms for peace“, was er sehr schnell als Trojanisches Pferd militärischer Nutzung ansah. Und früher als Andere wandte er sich energetischen und ökologischen Fragen zu. Ich lernte ihn, eher zufällig, im Zuge meiner Diplomarbeit kennen, bei der es um Dow Chemical in Stade ging.
Nach der Bundeswehr begann ich 1971 an der CAU Kiel mit dem Studium der Volkswirtschaftslehre. Karin Peschel und Jürgen Hauschildt stachen aus der Phalanx übermathematisierter Modellhuber wohltuend heraus, ebenso wie Karl Dietrich Erdmann bei den Historikern. Er triezte uns mit mittelalterlichen Urkunden, aber eben auch der Präzision fürs Detail. Und dann, welch ein Lichtblick, die Soziologie. Karl Simons, Volker von Borries, Hans-Werner Prahl und vor allem Lars Clausen. Im Kontrastprogramm Werner Kaltefleiter und sein Antipode Wilfried Röhrig in der Politologie. Da lernte man schnell, wie akademische Gemeinheiten funktionieren und wie sich Wissenschaft mit Weltanschauung amalgamiert. Spannende Zeiten, einschließlich explosiver studentischer Vollversammlungen und Quarkspeise mit Professorenkopf. 1974 wechselte ich an die Uni Bielefeld, damals, neben Frankfurt, „die“ Uni für Soziologie. Bei Manfred Brusten wurde ich HiWi, das Studium musste ja auch verdient werden. Neue und ganz andere Aspekte der Soziologie lernte ich bei Johannes Berger, Günter Albrecht, Wolf-Dieter Eberwein, Hartmann Tyrell, Gabor Kiss, Klaus Hurrelmann und vor allem natürlich Claus Offe, der nicht nur meine Diplomarbeit betreute, sondern auch meine Marx Rezeption beträchtlich modernisierte. Ihm verdanke ich viele Diskussionen und Denkanstöße. Der Spass kam auch nicht zu kurz: Theo(dor) Harder spielte phantastisch Klavier und schmiss Wahnsinnsparties. Seine mathematischen Modelle in der Methodenveranstaltung verstanden allerdings nur die Freaks. Sehr leise und eindringlich ging es dagegen bei Otthein Rammstedt zu. Wissenschaft mit ethischem Kompass ohne akademisches Pfauenrad. Wunderbar! Ihm verdanke ich die Lust an Georg Simmel und – lange nach dem Studium – die einprägsame Betreuung meiner Dissertation.